Codename: Swindle

Eva Lirot

Alex Coley schrak hoch – spürte einen dumpfen Schlag!

Er hatte sich den Kopf an irgendwas Hartem gestoßen. Er verzog das Gesicht, fasste sich vorsichtig an die schmerzende Stelle unter seinem rotblonden Kraushaar. Nicht feucht, also kein Blut. Gut. Doch was war das für ein hässliches Geräusch in seinen Ohren? Alex schluckte, versuchte es vielmehr. Seine Kehle war zu trocken. Im Mund, fauliger Geschmack.

Er rieb sich über die Augen, blinzelte. Die Sicht wurde klarer. Er befand sich in einem Zimmer. Von Mondlicht erhellt. Es war spärlich möbliert, auf dem Boden ein Koffer, überall Klamotten... Wieder dieser schrille Sirenenton!

Alex presste die Hand auf die Stirn, streckte den anderen Arm aus, tastete sein näheres Umfeld ab und erfasste etwas Festes. Warmes. Weiches. Er zog die Hand zurück, als er ein Seufzen vernahm. Und dann erneut dieses aufdringliche Geräusch, grässlich!

Jetzt endlich realisierte er, dass es von seinem Smartphone kam. Und dass das, was er eben umfasst hatte, eine nackte Brust war. Sie gehörte zu einer der beiden weiblichen Personen in seinem Bett. Die Stirn in Falten gelegt, wechselte sein Blick zwischen den reizvollen Körpern hin und her und glitt dann erneut durch den mondhell erleuchteten Raum. Hier war er noch nie gewesen...

Alex schnappte sich das nervende Handy vom Nachttisch. Er berührte das Display – automatischer Scan des Fingerabdrucks. Prompt sah er das Bild des Anrufers. Ein vollständiger Lagebericht ratterte endlich los in seinem Kopf: Er war in Brasilien. Rio. Strandurlaub. Verdienter Strandurlaub! Vor knapp zwei Tagen erst war er angekommen. Und die Happy Hour gestern in dieser bunten Bar – er warf abermals einen Blick auf die beiden milchkaffeefarbenen Cariocas in seinem Bett – die Happy Hour war offenbar nahtlos in eine Happy Night übergegangen...

Alex starrte auf das Foto des anrufenden Glatzkopfs, zog eine Grimasse und nahm das Gespräch an. Eine barsche Stimme brach vom anderen Ende der Leitung her über ihn herein: „Ständige Erreichbarkeit, Coley, schon mal gehört? Das gilt auch für Sie...“

Alex hielt das Handy weit von seinem Ohr weg. Er wartete zwei Minuten und hörte dann in einem schon ruhigeren Ton: „... und zwar in Deutschland...“

Kannte er. Aus dem Geschichtsunterricht. Das nächste Wort „Frankfurt“ kannte er auch. Es sagte ihm aber nichts. „Mainhatten“, versuchte sein Chef zu witzeln. Aber das sollte er lieber lassen. Nicht nur Alex Coley war der Meinung, dass der Humor dieses Mannes so zündend war wie ein kaputter Automotor.

Er ließ sich zurück ins Kissen fallen, lauschte der verhassten Stimme mit halbem Ohr. Er fuhr wieder hoch, als er begriff, was die Botschaft seines Vorgesetzten war: Sein Urlaub war vorbei. Nach knapp 48 Stunden. Er sollte nach Deutschland fliegen. In dieses Frankfurt. Das er bisher nicht mal mit Google Street View besucht hatte. Was aber egal wäre, versuchte sein Chef erneut zu scherzen, der Pilot wüsste ja den Weg. Sein Flieger würde noch heute starten. In rund zwei Stunden, um genau zu sein. Gebucht ab Rio, Koffer mit Ausrüstung am Flughafen.

Alex stöhnte, quälte sich aus dem Bett, ignorierte die beiden irgendwas auf Portugiesisch murmelnden Schönheiten. Er begann, seine Sachen in den Koffer zu stopfen, während ihm die Instruktionen des Kahlkopfs in sein vernebeltes Hirn sickerten. Je länger er zuhörte, desto mehr wünschte er sich, er würde noch schlafen. Und es handele sich lediglich um einen Traum. Einen ganz schlechten Traum.

Eine Buchmesse als Krisengebiet? Wo eine feindliche Macht ihre neueste “Waffe“ an Menschen testen will? Alex sträubte sich, das zu glauben, er torkelte aber brav durch das Zimmer, griff sich den Notizblock mit dem kitschigen Hotelwappen und schrieb im hellen Mondlicht mit.

„Die Zeit drängt!“, rief sein Chef ins Telefon. „Sie müssen sich beeilen! Und außerdem, ich verlange absolutes Stillschweigen, was die folgenden Informationen betrifft. Ist das klar?“

„Selbstredend“, murmelte Alex. Im Geiste. Unnötig, seinen ohnehin schon hitzigen Vorgesetzten noch weiter anzuheizen. Er hörte wortlos zu – wobei sich seine Miene mit jedem weiteren Satz des Kahlkopfs mehr und mehr eindunkelte.

„Hören Sie, Coley, wir haben ja schon länger Wind bekommen von einem Prototyp namens “Swindle“, Sie erinnern sich?“ Eine Antwort wurde nicht abgewartet, der Wasserfall aus Worten stürzte weiter in Alex’ Ohr herab. „Wir dachten, das gefährliche Produkt steckt noch in den Anfängen der Entwicklung, deshalb hatte es noch keiner auf dem Schirm. Über Kim Yong Yang“ – ein im asiatischen Feindesland embedded Agent, wie Alex wusste – „ist jetzt aber durchgesickert, dass das Ding bereits fix und fertig ist! Und nun erstmalig außerhalb der Entwicklungszentrale der feindlichen Macht zum Einsatz kommen soll! In einem anderen Land! Deutschland!“

Das Informationsstakkato krachte wie Pistolenschüsse in Alex’ Gehörgang. Er hielt das Handy wieder weiter weg, wohl wissend, dass Kahlkopf anscheinend nie Luft holen musste. Er brüllte unverdrossen weiter: „Zielort ist also Deutschland, klar? Und dort an einem Ort, an dem Menschen aus möglichst vielen Nationen auf engstem Raum zusammen kommen. Damit diese gerissenen Schurkendie neue Waffe auch gleich auf ihre Universalität hin überprüfen können. Dazu haben sie eigens einen Stand auf der Buchmesse aufbauen lassen. ... Ja, Sie hören richtig, einen Buchmessestand!“

Alex hatte gar nicht gefragt, verzichtete aber auf den Hinweis. Kahlkopf, an das Halten von ellenlangen Monologen mehr als gewöhnt, fuhr ungerührt fort: „Noch ahnt niemand, wer wirklich hinter dem asiatischen Verlagsteam steckt, das “offiziell“ einen neuen eBook-Reader anpreisen wird. Das wissen nur wir!“

Alex war nicht sicher, ob er sich über dieses „Privileg“ freuen sollte.

„Optisch als auch haptisch wirkt das Gerät wie eine dreiste Kopie des erfolgreichen Amazon-Lesegeräts Kindle“, dozierte sein haarloser Chef. „Nur dass es den “Swindle“ sogar in verschiedenen bunten Farben gibt. Und das auch noch umsonst! Also gratis verteilt. Unschwer vorauszusehen, dass das Gerät an den fünf Buchmessetagen massenhaft Abnehmer finden wird, logisch.“ Und jetzt senkte sich Kahlkopfs Stimme, wurde um etliche Nuancen leiser, so dass Alex nicht umhin konnte, das Handy wieder ganz dicht an sein Ohr zu pressen.    

„In Wahrheit ist dieser Swindle aber dazu entwickelt worden, einen tiefen Blick in die Köpfe der Konsumenten zu werfen. Werkseitig sind nämlich allerlei “Nettigkeiten“ installiert, die den gerissenen Datensammlern nicht nur Informationen über Lesegewohnheiten, Bestellverhalten und die persönlichen Empfehlungskontakte liefern sollen.“ Kahlkopf legte eine dramatische Pause ein. Alex dachte schon, das Gespräch wäre weg, doch dann ging das verschwörerische Flüstern weiter. „Mit den enormen Datenmengen, die das Gerät unbemerkt sammelt und weiterleitet, erhoffen sich diese Schwindler, dass sie Widerstandsbewegungen in Zukunft schon erkennen können, wenn sie entstehen. Und jetzt kommt der Clou!“ Alex’ Trommelfell klingelte, schmerzte. „Das Ding enthält angeblich ein bisher nie dagewesenes Modul, das es mithilfe einer Manipulation der herunter geladenen Texte erlauben soll, die Swindle-Nutzer in die staatlich gewünschte Richtung zu lenken. Das ist doch unglaublich, oder?“ Rhetorische Frage, Kahlkopf ratterte einfach weiter. „Wissen Sie, was das bedeutet, Coley? Das bedeutet, wenn das wirklich funktioniert, wird das Gerät bald Pflicht, und die ahnungslosen Menschen hängen wie die Marionetten an den Fäden der Mächtigen. Wahnsinn, oder?“ Irres Gekicher. „Swindle. Ha! Von wegen. Alles ein Riesenschwindel!“

Alex war fassungslos. „Ja, aber...“

„Unterbrechen Sie mich nicht! Hier ist Ihr Auftrag! Sie fliegen sofort nach Deutschland und überprüfen die Funktionalität des Geräts erst mal vor Ort. Wenn die Software des Swindle tatsächlich läuft wie von den asiatischen Schurken geplant, sind die uns um Lichtjahre voraus! In dem Fall entwenden Sie die Software samt Nutzerdaten, damit wir diese Waffe für den eigenen Laden nutzen können, kapiert?“

Und Kahlkopf endlich zum Leiter des gesamten Dienstes aufsteigt, dachte Alex so bei sich. Er hielt aber tunlichst den Mund, sagte nur: „Geht klar, Boss.“ Wenn er selbst nicht “ganz plötzlich“ von der Karriereleiter stürzen wollte und zwar hinab bis ins tiefste Kellerloch, war es besser, diesen Auftrag schnell und souverän abzuwickeln.

Alex Coley ließ das Handy sinken. Er drehte sich um, hatte keinen Blick für die beiden sich räkelnden brasilianischen Gazellen in seinem Bett. Dafür war jetzt keine Zeit, die Weltherrschaft ging auf jeden Fall vor...

Ralf Kramp

„Rosa“, hauchte sie in sein Ohr. Ihre Silhouette zeichnete sich scharf gegen das helle Rechteck des Fensters der Boeing ab. „Rosa da Concepção Perreira.“ Ihre Hand war warm und zart, und er konnte ahnen, was sie damit zu tun imstande sein würde. Wann hatte Alex jemals eine so angenehme Sitznachbarin gehabt.

„Sie sind etwa auch unterwegs zur Buchmesse?“

Die Prospekte, mit deren Hilfe er sich während des Flugs vorbereiten wollte, hatten ihn offenbar verraten.

„Sie auch?“, fragte er unschuldig. „Autorin? Verlegerin?“

Ihre Zähne waren kirschblütenweiß, ihr Lachen laut und kehlig. „Nein, Sir, zum Schreiben fehlt mir das Talent. Ich habe andere. Mehrere andere.“ Das glaubte er ihr aufs Wort. Ihr Parfum roch nach einem Korb frischer Früchte. Sie fuhr fort: „Vor sechs Jahren war ich Samba-Queen beim Carneval. Aber heute bin ich in einer anderen Mission unterwegs. Der Auftritt Brasiliens auf der Messe braucht ein wenig Feuer!“

„Samba?“

„Eben nicht!“, fauchte sie. „Es geht um Literatur, nicht um rotierende nádegas, Sir!“

Ihr Blick war zornig geworden und fast bereute er schon, gefragt zu haben. Aber dann fuhr sie mit fester Stimme fort: „Außerdem will ich Geld auftreiben. Viel Geld. Für den Anti-Imperialistischen Fonds!“ In ihre Stimme hatte sich Stolz geschlichen. „Schluss mit den staatlichen Gängeleien, nieder mit der imperialistischen Herrschaft! Für nationale Unabhängigkeit, für Demokratie und demokratische Rechte! Caralho pa fodece!“ Sie riss die Faust empor, und die Plastikbehältnisse des Bordfrühstücks wirbelten durch die Luft.

Was für ein Weib! Alex hoffte inständig, sie auf der Messe wiederzusehen.

Die Dekoration des Messestands hatte es in sich. Riesenhafte eBook-Reader in knallbunten Farben rotierten über einem kreisrunden Counter. Dahinter wuseltenunzählige Asiaten geschäftig hin- und her, die einen Reader nach dem anderen an die gierige Lesermeute aushändigten. „Swindle! For Free!“ blitzte es immer wieder auf den Oberflächen der Deko-Geräte auf. Die Besucher waren elektrisiert. Alles kostenlos! Die Hardware, die Downloads – die Elektroleser konnten ihr Glück nicht fassen.

Alex betrachtete das Ganze aus ein paar Metern Entfernung. Das Konzept ging anscheinend auf. Das ahnungslose Volk fuhr auf das Gratis-Angebot ab und lud und las und las und lud, dass es qualmte. Millionen von Informationen flogen hin und her. Die listigen Asiaten rieben sich die Hände.

Glatze hatte sich schon dreimal per Handy gemeldet. Der Nervbolzen. Als ob Alex nicht verstanden hätte, worum es ging. Es war einfach: Die ausgewerteten Daten hatten zum Stichtag in der Zentrale zu sein.

Das Mobiltelefon plärrte erneut und Alex hob es ans Ohr. Glatzkopf. „Die ausgewerteten Daten haben zum Stichtag in der Zentrale zu sein, Coley!“

„Kapiert. Übrigens gleich beim ersten Mal.“

„Wenn ich es nur glauben könnte, Coley!“ Sicher pochte jetzt wieder diese fette Ader an Glatzes Hals.

„Ich bin ganz nah dran“, sagte Alex und fühlte in diesem Moment eine zarte Hand auf seiner Schulter. Ganz nah…

Rosa.   

„Mister Coley!“, sagte sie freudestrahlend, und ihre Augen funkelten schwarz wie Oliven. „Ich habe Hunger. Großen Hunger.“ Das klang vieldeutig. Sollte es vermutlich auch sein.

„Ein Paar Frankfurter?“, schlug er vor. Davon ernährte man sich offenbar ausschließlich auf dieser Messe.

„Würstchen?Tão amaldiçoada névoa! Ich muss etwas Richtiges haben!“, fluchte sie, und es gab immer noch verschiedene Deutungsmöglichkeiten.

„Gut, wir gehen dahin, wo man hier hingeht. Frankfurter Hof, sieben Uhr.“

Sie zeigte die weißen Zähne.

In diesem Moment flitzte einer der Asiaten an ihnen vorbei und die Gänge der Buchmesse entlang. Er steckte in einem dunkelblauen Anzug, dessen Beine ein wenig zu kurz geschnitten waren. Der Mann hatte den Kopf gesenkt und er umrundete, die Arme fest um eine kleine schwarze Aktentasche geschlossen, jede Menschengruppe mit unglaublicher Geschicklichkeit, schob sich flink durch Trauben von Besuchern, glitt zwischen den Massen auf den Rolltreppen hindurch, ohne dass es auch nur eine Sekunde nach Drängeln aussah. Mit dem Shuttlebus fuhr er raus zum Rebstock-Parkplatz und dort bewegte er sich mit seinen kurzen Beinen pfeilschnell auf einen unauffällig abgestellten Van zu. Er sah sich um, klopfte mit dem Fingerknöchel ein paar Takte. Die Heckklappe öffnete sich, er griff in seine Aktentasche. Niemand beobachtete, wie eine Festplatte im Wagen verschwand und wie gleich darauf eine andere herausgereicht wurde. Diese rutschte unauffällig in die Aktentasche, und der Asiate wieselte zum Shuttlebus, der ihn zurück zum Messegelände brachte. 

Nachdem er an der Bar des Frankfurter Hofs für sehr wenige Getränke sehr viel Geld losgeworden war, schaltete Alex das Handy aus. Kahlkopf hatte ihn während des Abendessens nicht weniger als viermal angerufen. Nicht etwa, um neue Informationen zu übermitteln. Nein, nur die alte Leier. „Die ausgewerteten Daten …“ Jetzt war Zappenduster. Jetzt hatte er Feierabend. Und ihm gegenüber saß Rosa da Concepção Perreira und saugte an einem Strohhalm. Ihr Blick versprach alles.

„Mein Hotelzimmer ist winzig“, sagte Alex. „Und komplett aus Plastik. Wie eine Besteckschublade.“

„Das macht nichts“, hauchte sie. „Wer braucht denn Platz?“

Sie nahmen ein Taxi und brachen auf in eine Nacht …

… die erst 81 Stunden später endete, als Alex aus dem Schlaf hochschreckte und versuchte, zu erahnen, wo er sich befand. Zwecklos. Das Zimmer um ihn herum kannte er nicht. Das Datum auf seiner Armbanduhr dafür schon. Es war Sonntag, Publikumstag. Der letzte Tag der Frankfurter Buchmesse. War heute nicht der Stichtag für irgendwas? 

Hughes Schlueter

Software – Swindle - Schweine-Chef. Sein mit allen Untugenden dieser Welt und seltsamen Substanzen geflutetes Gehirn zählte die drei Begriffe zusammen, rechnete die aktuelle Uhrzeit dazu und meldete seinem Inhaber: „Besser beeilen, Buddy!“ Alex angelte sich sein Smartphone unter dem Bett hervor und seine schwarze String-Unterhose von der Deckenlampe, erinnerte sich kurz und gerne, wie sie dort hingekommen war, sprang ins Bad, gurgelte mit Mundwasser, rasierte sich gleichzeitig schaumlos nass und klatschte sich mehrere Handvoll Rasierwasser ins Gesicht und auf den Hals. Auf der Treppe nach unten, die er mehr fiel als ging, erinnerte ihn ein ekelhaft seifiger Geschmack in seinem Mund und ein höllisches Brennen auf den Backen, dass er etwas mit den Fläschchen im Bad falsch gemacht haben musste. Ein gemeines Kneifen im Schritt machte ihm klar, dass er sich den falschen String geschnappt hat. „Egal – Helden leiden leise, Mädels“, rief er sich seinen Ausbilder in West Point in Erinnerung und schon war er unten angekommen.

Ein Taxi fuhr ihn von irgendwo zum Messeturm und spuckte ihn aus. Die langsam klopfende Riesenfigur mit dem Hammer in der Hand erinnerte ihn an einen Indianer, der mit dem Tomahawk auf einen Luftkojoten einschlug. Wieder klingelte das Telefon. Klar, wer das war. Die Indianer würden ihn Stirn-bis-zum-Nacken nennen. Alex nahm den Anruf an, brüllte ein „sorry, busy!“ hinein und ging zum Eingang. Er hatte immer noch nicht begriffen, wie das mit den Eintrittskarten funktionierte. Erst nach unten. Schlange. Dann Gutschein. Schlange. Dann Ticket. Nein! Garderobe. Mist. Zurück. Schlange. Zum Eingang. Schlange. Drei Scanversuche, dann war er drin.

Wo war jetzt noch mal der Stand der Asiaten? Ah, ein Katalog an der Kette! Halle 3.0 C97, nichts wie hin zu „Hippolyte“, wie sie ihren Scheinverlag getauft hatten. Das Leitsystem war vorbildlich und führte ihn. Ja, das konnten sie, die Germans. Alex lief quer über die Agora und drehte sich zu einem Stand mit Crêpes um. BONK! Er knallte mit einem mittelalten, gepolsterten Rothaarigen in einem dunkelblauen Blazer mit Tennisklamotten drunter zusammen, der ihn begriffsstutzig ansah und seinen Dreitagbart rieb, während er einen Stapel Biografien aufklaubte, von deren Cover er selbst herunterglotze. „Ähh...“

Alex sah den Kerl böse an und ballte die Faust.

„...äh, nit tschlakken, hatt meine Ex schon! Ich schenk Ihnen auch was...“, druckste der Rothaarige und drückte Alex eines von den Büchern in die Hand. Der lief weiter in Halle 3. Brummvoll war es. Überall wurden Lesungen abgehalten. An einem Stand trug ein langhaariger Philosoph mit gefälligem Timbre aus einem Werk vor; rechts transportierten Sanitäter eine in Ohnmacht gefallene Frau ab, die aber einen Gang weiter aufschreckte, als die durchdringende Stimme einer blonden Dauerwellenträgerin auf Hessisch in ihr Ohr las. An einem anderen Stand fiel Alex ein Buch mit einem großen „F“ ins Auge und er wunderte sich, wie liberal man in Deutschland mit diesem Wort umging.

„Hippolyte“ tauchte auf. Die Manipulatoren! Alex mischte sich unter die Leute und erhielt seinen Swindle. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Hostessen, die hinter einer Wand verschwanden, um wieder mit prallen Paketen zu erscheinen. Er folgte einer nach hinten und sah, wie gerade ein Techniker mit Headset in blütenweißem, knitterfreiem Kunstfaser-Hemd eine buchgroße Wechselfestplatte aus einem Serverslot zog und seinem Landsmann in dem dunkelblauen Anzug mit den zu kurz geschnittenen Beinen übergab.

In diesem Moment klingelte das Telefon in Alex Hosentasche. Widersprüchliche Gefühle. Ein angenehmes Vibrieren in der Leistengegend, ein unangenehmes Erinnern an den Auftrag. Fleischkappe rief wieder an. Die Asiaten sahen erschrocken zu Alex. Der Techniker rief etwas nach hinten und Alex war klar, dass nun die Schläger aktiviert wurden. Von hinten grunzte es bestätigend. Keine Zeit zum Nachdenken. Alex stieß den Dunkelblauen zu Boden und riss die Festplatte an sich. Aufgabe eins: Datensicherung abgeschlossen. Aufgabe zwei: Sabotage der Anlage noch offen. Alex nahm das Buch, das er vom Rothaarigen bekommen hatte und hämmerte es in den Festplattenslot des Servers, der das analoge Input nicht verkraftete und sich quietschend und rauchend verabschiedete. Alles war für irgendetwas gut.

Alex sprintete los. Drei Verfolger. Er schlug einen Haken und landete in einem Stand, auf dem gerade eine englische Schriftstellerin auf dem Podium von einem Interviewer befragt wurde „... Pseudonym gelüftet – Auflage explodiert. Wäre man ein Schelm, könnte man meinen, der Verlag...“. Die Autorin nahm einen langen Bleistift aus der Tasche, richtete ihn auf den Frager und rief energisch „Riddikulus!“. In diesem Moment krachte einer der Asiaten, der die Kurve nicht bekommen hatte, gegen den Interviewer und riss ihn zu Boden. Die Engländerin steckte den Bleistift ungerührt in ihre Handtasche zurück und nahm die Ovationen des Publikums mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

Noch zwei Verfolger.

Alex lief den Gang weiter an einem Feuerwehrschlauch vorbei. In einem Glaskasten hing eine Axt. Hinter sich hörte er es splittern. Einer der Verfolger hatte jetzt wohl eine Waffe. Er rannte und kam zueinem Foyer, in dem ein blaues Sofa stand. Menschen umringten es. Eine gutaussehende blonde Moderatorin unterhielt sich mit einem amerikanischen Bestsellerautor: „... hört man Unglaubliches: In Northampton, England, wird zu Zeit ein Clown gesichtet, der die Bewohner in Todesangst versetzt. Fühlen Sie sich verantwortlich, wenn Ihre Figuren lebendig werden?“

In diesem Moment raste Alex‘ Verfolger mit wutverzerrtem Gesicht in das Foyer und schwang drohend eine Axt über seinem Kopf. Die Menschen kreischten und liefen in Panik in alle Richtungen. Auch über den Asiaten ohne Axt.

Nur noch ein Verfolger.

Alex drückte die Festplatte an sich und lief in Richtung Ausgang. Der Asiate war noch hinter ihm, hatte aber seine Waffe im Gewühl verloren. Er war verschwitzt und keuchte. Wieder eine Menschentraube in einem etwas kleineren Foyer. Ein Fernsehteam sammelte Stimmen und Meinungen zum diesjährigen Literaturnobelpreisträger. Ein Reporter kam auf Alex zu und hielt ihm ein Mikrofon unter die Nase. „Und wie beurteilen Sie die Vergabe?“

Aus den Augenwinkeln sah Alex, dass sein Verfolger nur ein paar Meter entfernt war, eine Nylonschlinge aus der Tasche zog und ihn grimmig ansah. Alex zeigte mit dem Finger auf ihn. „Well, da fragen Sie am besten mal Haruki Murakami!“

Der Reporter war begeistert. Zumal er, wie die meisten, nicht wusste, wie der japanische Schriftsteller überhauptaussah. Er stürmte auf ihn zu und das ganze Team mit.

„MURAKAMIIII!!“

Die Traube stöhnte kollektiv auf, zog nach und umschloss den Asiaten, der sich nicht mehr bewegen konnte.

Kein Verfolger mehr. Alex atmete auf.

Er trat auf den Platz vor der Festhalle. Es war Abend und wurde schon etwas kühl. Das Handy vibrierte und klingelte. Er ignorierte es. Die Festplatte steckte sicher in seinem Hosenbund.

„Tuuuuuuuut!“

Ein sonores Hupen. Alex sah neben sich. Die lange Kühlerhaube eines dunkelroten Lincoln Continental schob sich in sein Blickfeld.

„Olá, pão!“

Rosa!

Er stieg ein.

Das Letzte, was er wahrnahm, waren zwei warme und zarte Hände, die nach seiner Hose tasteten und von denen er wusste, was sie zu tun imstande waren. Und den Geruch von Chloroform.

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