Nachdem es bei uns hell wurde

Eva Lirot

„Habe die Ehre,... küss’ die Hand...“, Armand Vandenberg drückte der hübschen jungen Frau ein Busserl auf die Wange und drückte ihr seine Spezialvisitenkarte in die Hand – eierschalenfarben und nur mit seiner Handynummer versehen. Sie sah verdutzt auf die Karte, lächelte dann. Leicht errötend.

„Herr Vandenberg...!“ Ein Räuspern. Gefolgt von einem dezenten Schultertippen. Einer der Herrschaften aus seinem ihn ständig umringenden Verlagstross buhlte um seine Aufmerksamkeit. „Herr Vandenberg, wir müssen weiter, bitte, unser nächster Termin...“

„Ja, ja, scho recht“, erwiderte Armand, lachte dröhnend und schlug dem bebrillten Mann im mausgrauen Businessanzug derb auf die Schulter. „I komm ja scho.“

Das ließ sich doch gut an auf der Frankfurter Buchmesse. Vandenberg hatte schon befürchtet, vor Langeweile vergehen zu müssen. Es war Mittwoch. Erster Fachbesuchertag. Mit einer Fanschwemme konnte er als angehender Bestsellerautor da nicht rechnen. Aber vielleicht würde es ja was werden mit der jungen Frau.

„Das Leben ist schön!“, rief er. Und registrierte zufrieden die Aufmerksamkeit der umstehenden Personen. Er schnappte sich die Cheflektorin seines Verlages, legte den Arm um sie und raunte ihr zu, dass sie sofort sein Buch gut sichtbar nach oben halten solle – just in dem Moment, als die Kamera des hr-Fernsehens in seine Richtung schwenkte. Für die Medien hatte er einen Riecher. Schon immer gehabt. Sonst wäre er niemals soweit gekommen.

True Tales – Ein wahres Märchen, so lautete der Titel seiner druckfrisch erschienenen Autobiografie. Fast sechshundert Seiten. Und reich bebildert: alte, heute blass wirkende Aufnahmen aus seiner Anfangszeit in den billigen Hollywood-Splatterfilmen. Damals, in den Siebzigern, hatte er noch langes Haar gehabt, dem Hippie-Kult geschuldet. Auf den ganzseitig abdruckten Filmplakaten seiner Kassenknüller – die „Stirb grausam“-Trilogie um die menschliche Kriegsmaschine Randolph Murphy – war er mit militärtypischem Stoppelkopf zu sehen. Eine zivile und mit viel Pomade in Form gebrachte Frisur trug Armand Vandenberg auf seinem Hochzeitsfoto mit Prinzessin Marie-Charlotte, Mitglied der weitverzweigten luxemburgischen Großherzogfamilie. Dieses Foto war um die Welt gegangen. Krönender Abschluss der Bilderserie: er als Vice-President der Europäischen Investitionsbank. Mit Zigarre. Und Einstecktuch. In dunklem Türkis. Ein fast so dunkles Türkis wie die Tätowierungen der Männer, die gerade vor dem Nachbarstand anfingen, einen Kriegstanz aufzuführen. Im Takt zu den Trommeln, deren dumpfer Klang aus den Lautsprechern herüberschallte.

Armand Vandenberg sah zu der Gruppe hin, um die sich eine immer größere Menschentraube bildete. Er spitzte die Lippen. Witterte Aufmerksamkeitspotential. Setzte sein Siegerlächeln auf und schritt zu dem Spektakel hinüber –seine Entourage vom Verlag folgte ihm eilfertig. Kaum einer, der ihn nicht sofort erkannte und bereitwillig vorbeiließ. Er neigte gönnerhaft den Kopf, blieb stehen und besah sich die seltsame Gruppe.

Das waren Maoris aus Neuseeland. Schwarze Haare. Nicht nur am ganzen Körper, auch im Gesicht tätowiert. Dazu trugen sie bunte Stirnbänder. Immer mehr kamen auf die große Fläche vor dem Stand. Es waren große und sehr kräftige Männer, die diesen seltsamen Reigen bildeten. Sie bewegten sich sehr präzise, kraftvoll, gekonnt. Die Augen verdreht, streckten sie wieder und wieder ihre Zungen raus. Schrien. („Gott, haben die einen tollen Stimmsitz“, dachte Vandenberg. Wie lange hatte er in der Schauspielschule trainieren müssen, um so was hinzukriegen).

Nur einer fiel aus dem Rahmen. Der Mann war sehr schmächtig. Bewegte sich eher unbeholfen. Und hatte dicke dunkle Theaterschminke im Gesicht. Außerdem trug er eine Perücke. Eine verrutschte Perücke. Er blieb ganz außen am Rand der Gruppe, darauf bedacht, den anderen Tänzern bloß nicht zu nahe zu kommen, als wolle er nicht bemerkt werden. Einige der Zuschauer deuteten mit dem Finger auf ihn und grinsten. Sie hielten ihn anscheinend für einen Clown und warteten auf die entsprechende Showeinlage.

Vandenberg taxierte das von den Kriegstänzern gebannte Messepublikum. Er begann mit dem Fuß im Takt zu wippen, klatschte und ließ dabei seinen Blick durch die Zuschauermenge gleiten. Wieder und wieder rissen die Tänzer die Augen auf und intonierten ihren Sprechgesang. Wörter, die das Publikum nicht verstand. Dennoch bewegten sich die Zuschauer intuitiv ein Stück weit zurück.

Es war eine perfekte Nachstellung des berüchtigten Todestanzes, mit dem die Maori den pakehas, den Weißen, das Fürchten lehren wollten. Heute nur noch eine touristische Attraktion, Rituale aus der kriegerischen Vergangenheit der ersten Siedler Neuseelands.

Das Geschrei der Maori-Showtänzer schwoll noch einmal an, als ein mit prächtigem Kopfschmuck angetaner Krieger in ihren Kreis trat. War das ein Häuptling?    

Vandenberg hielt es nicht mehr am Platz. Mit drei, vier Schritten überwand er die Distanz zwischen sich und dem Häuptling, baute sich neben ihm auf, grinste und legte jovial den Arm um seine Schultern. Was den Tänzer - im richtigen Leben Partner einer Wirtschaftskanzlei in Wellington - erkennbar nicht amüsierte. Er drehte ruckartig den Kopf, stierte Armand an. Mehrere Sekunden lang. Dann ließ er ein sehr lautes und düster klingendes Brummen hören. Die anderen Tänzer verstummten. Bewegten sich wie in Zeitlupe auf den Haupttänzer zu. Die Zuschauer zuckten zusammen, als sie erneut mit ihren lauten Rufen begannen. Bis auf einer der Männer. Der mit der verrutschten Perücke und der dunklen Theaterschminke. Er stand noch immer da. Stocksteif. Bewegte sich nun aber auf den Häuptling zu. Langsam. Die rechte Hand in einem Beutel an seinem Lendenschurz vergraben.

Der imposante Haupttänzer löste sich aus Vandenbergs Umklammerung und blieb stocksteif stehen. Armand Vandenberg imitierte die Pose. Einige der Zuschauer fingen an zu lachen. Die Maori-Tänzer begannen erneut mit ihren lauten Rufen und vollführten die ausladenden Schritte des Tanzes mit muskulösen Beinen.

Doch dann übertönte der Außenseiter mit seiner verrutschen Perücke alle mit seinem Geheul. Er stürmte los und stürzte auf Vandenberg zu. Mit blutunterlaufenen Augen. Was aufgrund der dicken Theaterschminke kaum zu erkennen war. Im Gegensatz zu dem Dolch mit der blitzenden Klinge, den er vorgestreckt in der Hand hielt.

Armand Vandenberg schielte ins Publikum. Verlor sein Siegerlächeln, als er den alles verbrennenden Schmerz in seinem Bauch spürte. Sein Atem setzte aus. Sein Blick fiel nach unten. Auf den Dolchgriff, der aus seiner Bauchmitte ragte. Das Gejohle im Publikum registrierte er nicht. Auf den flüchtenden Angreifer achtete niemand. Alle verfolgten gespannt, wie Vandenberg langsam auf die Knie sackte und nach vorn kippte. Applaus brandete auf. Pfiffe. Zugabe-Rufe. Noch heftigerer Applaus. Der erst verstummte, als die schnell wachsende Blutlache um Armand Vandenbergs Bauchwunde deutlich sichtbar wurde.

Und es war zum ersten Mal kein Filmblut.

Marc Graas

Danièle Mathes würde weniger als vier Stunden vom Polizeipräsidium in Luxemburg bis zum Frankfurter Hauptbahnhof benötigen. Das wäre Rekord, aber wenn der Sekretär des Premierministers persönlich beim Hauptkommissar anrief, flitzte man besser. Ihre kleine Tochter war an solche Hauruck-Aktionen gewöhnt und würde die nächsten Tage bei den Großeltern genießen.

Der ermordete Armand Vandenberg war wirklich kein Unbekannter in Luxemburg. In den siebziger Jahren war seine Popularität aus Hollywood auch nach Europa geschwappt. Er hatte es bis zu einer Bambi-Verleihung nach Wiesbaden geschafft und die Leser der Luxemburger Telerevue hatten ihm zu einem Preis verholfen. Aber was viel wichtiger war: Die Fotos mit der Prominenz, die tags darauf in den Luxemburger Zeitungen abgedruckt worden waren. Mit einem Schlag auch in dem kleinen Land populär, feilte er fortan an seinem gesellschaftlichen Aufstieg, der durch die Heirat mit Marie-Charlotte seinen Höhepunkt erlangte. Dann folgte die politische Karriere. Er ließ sich ins Parlament wählen und rutschte einige Jahre später, nach einem unglücklichen Todesfall des Amtsinhabers, als Minister für die Bereiche Energie und Industrie nach. Armand Vandenberg musste aber schon nach einer Legislaturperiode seinen Hut nehmen. Sein aufgeblasenes Gehabe war selbst den traditionell geduldigen Luxemburger Wählern zuviel geworden. Um den Gefallenen vor dem wirtschaftlichen Nichts zu bewahren - und wohl auch vor ehrlicher Arbeit - war er von seinen ehemaligen Kabinettskollegen ruck zuck zum Vice-President im Direktorium der EIB, der Europäischen Investitionsbank, bestellt worden.

Danièle schüttelte den Kopf. Jeden Tag sah man Armand in irgendeiner Klatschspalte mit einem Glas Champagner und einer Blondine in seinen muskulösen Armen. Sie nahm ihren Computer und begann mit ihren Recherchen.

Sie fand über 20 Millionen Ergebnisse bei Google unter „Armand Vandenberg“. Neben unzähligen Lifestyle-Notizen ergab die Suche auch einen Überblick über den beruflichen Werdegang des Mannes. Ziemlich gerissen, dachte Danièle, als sie die beeindruckende Liste von Aufsichtsräten durchforstete, in denen er tätig war. Besonders interessant fand sie seinen Posten bei EnergiePrompt, einer milliardenschweren Fondsgesellschaft, die sich auf die Energieindustrie spezialisiert hatte. Den trat er nur einige Wochen an, nachdem er sein Amt als Energieminister hatte aufgeben müssen.

„Eine fruchtbare Annäherung der Politik an die Wirtschaft. Manche kriegen den Hals eben nicht voll genug“, flüsterte sie und klappte angewidert ihren Laptop zu.

Als ihr Zug eine Stunde später im Frankfurter Bahnhof einlief, entdeckte sie ihren Kollegen von der Frankfurter Kripo sofort. Sie seufzte, der Mann schien schon über fünfzig, schaute miesepetrig drein. Seinen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen.

Einen Hut! Naja, vielleicht taute er im Laufe der Zeit ein bisschen auf. Humor und Lockerheit schienen jedoch noch nicht bei dem Beamten angekommen zu sein.

„Kuntze.“

Auf Danièles gewinnendes Lächeln verzog er keine Miene und nahm sie mit zum Tatort.

In den Hallen der Frankfurter Messe hatte die Polizei die Stellehermetisch abgeriegelt, einige Meter hinter dem Absperrband zeugte ein getrockneter Blutfleck von dem Verbrechen. Beamte der Spurensicherung liefen mit kleinen Pinseln und Staubsaugern zwischen den Buchständen umher und sammelten Haare und Hautschuppen, Straßendreck von den Schuhen und ausgespuckte Kaugummis ein. Betont lässig führte Kuntze seine Kollegin in die Details des Verbrechens ein.

„Hier hat er gestanden, als sich jemand aus der Tanzgruppe mit einem Messer auf ihn gestürzt hat. Der Täter war so schnell verschwunden, dass wir nicht mal eine vernünftige Personenbeschreibung haben.“

Eine laute Feuerwehrsirene ertönte. Danièle zuckte zusammen. Es war Kuntzes Handy.

„Nachricht vom Kommissariat. Der Botschafter Neuseelands möchte uns treffen. Diskret. Er ist anlässlich der Buchmesse für zwei Tage aus Berlin angereist. Er wartet in der Cafeteria.“

Der Botschafter, ein vornehmer Mann von etwa sechzig Jahren, saß an einem Tisch in der leergeräumten Cafeteria neben der Halle. Als Kuntze und Danièle den Raum betraten, erhob er sich und setzte sein Diplomatenlächeln auf. Er verbarg routiniert seinen Ärger darüber, dass hier nicht der Polizeipräsident persönlich antanzte.

„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten.“

Er beugte sich vor und raunte bestimmt: „Dieses Gespräch behandeln Sie bitte vertraulich. Ich repräsentiere schließlich mein Land.“

Sie setzten sich an den Tisch. Der Botschafter legte ohne Umschweife los.

„Ich habe nicht viel Zeit, es ist eine komplexe Geschichte, also unterbrechen Sie mich nicht.“

Er klang ziemlich autoritär, wie Danièle fand. Kuntze nickte nur.

„Sie wissen vielleicht, wir haben gelegentlich Divergenzen mit unserer Urbevölkerung, den Maori. Nicht mit allen, es gibt Stämme und Sippen, die haben sich hervorragend integriert. Andere haben sich für Alkohol und Gewalt entschieden, wie überall.“ Er nippte an seinem Cappuccino. „Die Tänzer, die heute Nachmittag hier getanzt haben, sind natürlich Privatleute aus allen möglichen Berufen – orientieren sich aber an der Ästhetik und Geschichte der Ngãti Whãtua Ki Õrãkei. Das ursprüngliche Gebiet dieses Stammes liegt nördlich von Taupo. Aber die meisten leben schon lange nicht mehr dort. Sie haben sich im Stadtgebiet von Taupo angesiedelt und hausen in Wellblechhütten unter erbärmlichen Bedingungen. Ein wirklich schlimmes Los!“ Er holte tief Luft. „Vor einigen Jahren hat sich dort eine Gruppe von jungen Männern zusammengefunden, die zurück zu ihren Wurzeln, zu ihrer Identität, finden will.“ Er reckte sich, als ob es noch mehr Zuhörer gäbe, die er beeindrucken konnte. Routiniert fuhr er fort, doch jetzt mit deutlich gedämpfter Stimme: „Wenn möglich, unterstützt die neuseeländische Regierung die Belange der Ureinwohner. Und dieser Stamm wollte nun also einen Teil des Gebietes zurückkaufen, das man ihnen vor mehreren hundert Jahren abgenommen hatte. Wir nennen es den Orakei-Block. Es ist eine berühmte Gegend mit sehr hoher geothermaler Aktivität. Der Orakei-Block befindet sich aber in privater Hand und konnte von der Regierung also nicht zur Verfügung gestellt werden. Das Land musste aufgekauft werden. In diesen Fällen erlauben uns unsere Gesetze den Landkauf zu den üblichen Grundstückspreisen. Aber für den Orakei-Block sind die Preise plötzlich in schwindelerregende Höhen geschnellt!“

„Wegen der geothermalen Aktivität, nehme ich an? Energiegewinnung, sauberer Strom?“, warf Danièle dazwischen, die es nicht gut aushielt, nur zuzuhören.

„Genau!“, fuhr es dem Botschafter begeistert heraus, „Neuseeland möchte in erneuerbaren Strom investieren und unterstützt die Ausbeute von geothermalem Strom. Damit ist mit relativ überschaubaren Investitionen eine Unmenge Geld zu verdienen. Zehn Prozent der neuseeländischen Stromversorgung läuft derzeit über die geothermale Schiene. In Island sind es unvorstellbare hundert Prozent, stellen Sie sich vor!“

„Aber was hat all dies mit Armand Vandenberg zu tun?“, fragte Kuntze und runzelte die Stirn.

„Nun, Vandenberg war Vice-President der Europäischen Investitionsbank - damit direkt zuständig für die Kreditvergabe. Und strikt dagegen, den Ngãti Whãtua Ki Õrãkei finanzielle Hilfe für den Kauf des Orakei-Blockes zu bewilligen. Die finanzielle Hilfe der EIB war die letzte Möglichkeit für die Maori gewesen, sich genug Geld zu verschaffen, um ihre ehemaligen Stammesgebieten zurückzukaufen. Die EIB investiert ja auch außerhalb Europas, wenn es um nachhaltige Projekte geht, besonders wenn eine benachteiligte Urbevölkerung mit im Spiel ist. Ich muss Ihnen ehrlich gestehen, niemand hatte verstanden, warum Vandenberg sich mit solcher Aggressivität gegen den Antrag gestemmt hatte. Es hätte ihm egal sein können. Völlig egal. Sehr merkwürdig jedenfalls. Ziehen Sie selbst Ihre Schlüsse! Aber was jetzt das Wichtigste ist: Halten Sie mein Land soweit es geht aus der Presse raus. Wir sind schließlich Gastland. Erweisen Sie sich als guter Gastgeber! Ermitteln Sie schnell, WER es war. Sehr schnell bitte. Und ich weiß – das war kein Neuseeländer!“

Mit diesen Worten erhob sich der Botschafter, schüttelte den beiden die Hände, legte sich seinen Mantel um die Schultern und ließ sich von seinem Chauffeur nach draußen begleiten. „Ich hoffe, ich konnte helfen“, knurrte er noch und war verschwunden.

Danièle und Kuntze blieben sitzen – plötzlich bäumte sich der deutsche Polizeibeamte auf. Danièle registrierte ein temperamentvolles Blitzen in seinen Augen, das sie bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Galt es ihr?

„Sie haben mir doch vorhin von den vielen Pöstchen erzählt, die Vandenberg innehatte?“

„Ja, ein richtiges Goldbärchen, die Hände in jedem Honigtopf.“

„Sie hatten etwas erwähnt von einem Fonds, der sich auf Energie spezialisiert hatte. Energie-Pomp, oder so was.“ Danièle nahm ihren Laptop aus der Tasche und schaute nach: „EnergiePrompt!“

„Warten Sie hier, ich muss mit einem Kollegen von der Abteilung für Wirtschaftskriminalität telefonieren. Der soll das durch seine Datenbank jagen.

Kuntze lief leichtfüßig davon, stellte Danièle mit einem kleinen warmen Gefühl im Bauch fest. Als sie nach etwa zwanzig Minuten ihren dritten Cappuccino bestellte hatte, meldete er sich mit einem triumphierenden Lächeln zurück.

„Ich hab’s!“, rief er und winkte mit seinem Handy. Seinen Hut hatte er abgelegt und sah um Jahre jünger aus. „Jetzt haben wir ein Motiv!“

Der bräuchte nur jemanden, der sich um ihn kümmert, dachte Danièle und seufzte leise.

„Den Kollegen von der Wirtschaftsabteilung ist EnergiePrompt keine Unbekannte. Eine AG. Investitionsgesellschaft, die mit russischem Geld aus dubiosen Quellen gespeist wird und einen Ableger in Luxemburg hat. Die kaufen alles auf, was mit Energie zu tun hat, besonders in Schwellenländern. Neuseeland ist ein gut überschaubarer Markt und geothermale Energie ist eine klare Wachstumsindustrie. Und unser toter Freund hier war denen wohl einen Gefallen schuldig. Als Vice-President der EIB konnte er den Russen helfen, diese geothermischen Quelle zu kaufen. Wenn ich das richtig verstanden habe, haben die heißen Quellen das Potential, halb Neuseeland mit Strom zu versorgen. Die Maori hätten für hundert Jahre ausgesorgt gehabt. Jetzt fließt ein Großteil des Geldes in die Taschen eines russischen Oligarchen.“

„Na, wenn das kein Mordmotiv ist.“

Beide wollten gerade den Saal verlassen als eine junge Frau ungeschickt auf ihren Stöckelschuhen balancierend in die Halle kam.

„Wo ist er, wo ist er, mein Gott, wo ist er?“, schrie sie laut.

„Ist das seine Frau, diese Prinzessin?“, fragte Kuntze.

„Nein, nein“, lächelte Danièle, „das ist eine Journalistin aus Luxemburg. Sie ist vom Fernsehen, die kennt bei uns jeder.“

Monique Feltgen

Aber ich noch nicht, dachte Kuntze und entwickelte eine Energie, die Danièle ärgerte. Sieh da! Kaum kommen High Heels, schon springt er...

Schnell erreichte Kuntze die blonde Zierde der wichtigsten Luxemburger Nachrichtensendung und schnappte sie am Oberarm.

„Hey! Was erlauben Sie sich!“ Sie schüttelte den vermeintlichen Autogrammjäger ab und taxierte ihn biestig. „Finger weg, wann ech gelift![1] – Was wollen Sie?“

„Das frage ich Sie, Madame“, antwortete Kuntze höflich, „das ist ein Tatort und das Band keine Partygirlande, sondern eine polizeiliche Absperrung. Ich leite die Ermittlungen. Stefan Kuntze, Hauptkommissar.“

„Oh Mamm![2]… Sandra Boehles.“

Kuntze reagierte auf den Namen nicht mit einem Zeichen der Erkennung, was der Journalistin missfiel.

„Chefredakteurin. RTL Télé Lëtzebuerg.“Sie lächelte. Doch ihre Augen glitzerten kalt. Sie versuchte die Pose, für die sie vor der Kamera im Studio berühmt war, auf ihren Stöckelschuhen hinzubekommen. Dort konnte sie die Zuschauer, die sie nur von den Hüften aufwärts sahen, mit bequemen Turnschuhen überlisten. Der Versuch endete in den Augen der Luxemburger Kommissarin in plumpem Gewackel. Kuntze sah es toleranter, aber entfernte sie trotzdem vom Tatort.

Ein Gong kündigte eine Ansage an und lenkte die Aufmerksamkeit der Messebesucher auf die Bildschirmwände in den Hallen, die losflackerten. Eine große Online-Versandplattform brachte erstmalig in einem Testprojekt regelmäßig Verkaufsstatistiken in Echtzeit. Zu sehen waren zwei Autoren: Armand Vandenberg und Florian Bertolt Schnitzer, ein deutscher Philosoph und Psychologe. Stolz lächelnd hielt jeder sein Buch in die Kamera. Eine weibliche Stimme aus dem Off verkündete reißerisch:

In diesem Augenblick ist die Autobiografie ‚True Tales – Ein wahres Märchen’ von Armand Vandenberg schon wieder der Verkaufsbestseller! Nur auf Platz 2: das Sachbuch ‚Wo bist du, wenn du da bist’ von...“, ein kurzes Zögern, „Florian Bertolt Schnitzer.“

Schnitzer stand ruhig und allein in der Menge, die nach oben auf die Videoschirme sah.

„Gratuliere!“, riss eine Unbekannte ihn aus seinen Gedanken. „Platz 2 ist fantastisch! Sie sind klasse! Hätten Sie ein Autogramm für mich? Hier ins Buch? Oder wenn Sie möchten...“

Er drehte sich um. Eine dickliche Frau sah ihn durch eine trübe Brille an und hielt ihm ihr Buch hin. Neben ihr drehte sich eine hübsche Schwarzhaarige mit langen Haaren und True Tales unter dem Arm um und ging.

In den RTL-Studios auf Luxemburg-Kirchberg[3] hechtete Koordinator Jean hin und her. Wo blieb die Chefredakteurin? Die Live-Schalte war geplatzt. Sie war nicht im Ü-Wagen. Mord, Frankfurter Buchmesse, Täter flüchtig! Das hatte er über die Nachrichtenagentur Thomson-Reuters erfahren. Aber nun brauchte er seine Chefredakteurin, die ihn mit Details füttern musste. Der verdammte Ü-Wagen stand nutzlos auf dem Messegelände herum. Kameramann Tom und seine Techniker-Kabelträger-Crew waren wahrscheinlich unterwegs und erzählten den jungen Mädels was vom Großrausbringen beim Fernsehen. Wenn man die mal brauchte, waren sie nicht da! Pack!

Die plötzliche Gegenwart des Senior Vice Presidents der RTLGroup unterbrach seinen Fluch.

„Herr Senior...“, Jean wusste nicht, wie er den Mann ansprechen sollte, er kannte ihn nur vom immergleichen Foto aus den Jahresberichten. Es kam gefährlich ruhig:

„Wo – ist – S A N D R A – BOEHLES?!“

Jean sah irgendwohin. Nur nicht dem Senior Vice President in die Augen.

„Ehm... In Frankfurt. Auf der Buchmesse.“

Der Blick des Senior VPs begann, die Geräte im Raum einzufrieren.

„Das – weiß – ich! Thomson-Reuters füttert die Welt mit News zu diesem spektakulären Mord. Und wir? Wir haben unsere CHEFREDAKTEURIN vor Ort! Und was melden wir? Bestsellerlisten! Wo bist Du, wenn Du da bist?? Und so eine Scheiße!“

Sein Blick sezierte Jean. Und er setzte nach.

„Wir broadcasten wie abschreibende Schüler einen kopierten Newsflash, der unseren Premierminister veranlasst, eine Sitzung in Brüssel zu verlassen! Jean-Claude Juncker hat mich persönlich gefragt, was ich darüber weiß. NICHTS! Peinlich!! Er hat mich beauftragt, etwas Konkretes zum Ableben unseres Ex-Ministers Armand Vandenberg herauszufinden. Kon-kre-tes! Eigenes. Armand ist eine Luxemburger Ikone. Und ein Freund!“

Jean, von Natur aus kleingewachsen, schrumpfte und schrumpfte. Das Ende seiner noch nie in Schwung geratenen Karriere stand vor seinem inneren Auge. Gott, hilf mir!, war sein einziger Gedanke. Und... Gott half. In Form eines unerträglichen Rückkopplungs-Schrillens.

Blitzschnell schlug Jean auf einen Knopf. Den Zeigefinger auf einen Monitor gerichtet, formte er mit seinen Lippen in Richtung Senior VP das Wort Chef-re-dak-teu-rin. Gleichzeitig schielte er auf das Kontrollpanel und war erleichtert, dass der grüne Knopf glühte. Das Kamerateam war live. Auf dem Schirm neben Sandra blendete die Messehalle mit dem Tatort im Hintergrund auf. Vorne Menschen, die gafften, glotzen, Hälse reckten. Polizisten und Securityleute, die sie in Schach hielten. Der Tumult war greifbar. Der Senior VP brummte zufrieden.

Sandra faselte irgendetwas im Sensationston und Tom fuhr mit seiner Kamera klinisch-ruhig die Menschen ab.

„Moment!“

Der Senior VP tappte mit einem fetten Finger auf den Monitor, der Toms Bilder zeigte.

„Auf den Schirm! Sofort!“

Jean steuerte über Headset Tom mit der Kamera.

Inmitten der aufgeregten Massen saß an einem Stand ein stämmiger Mittvierziger mit Glatze und schwarzem Vollbart. Er trug einen senfgelben Seidenanzug und las unbeteiligt auf seinem iPad.

„Ran. Print Screen. Bild an Juncker mailen. Seine persönliche Adresse ist hier. Und Sie haben die sofort wieder vergessen.“

Jean führte es aus.

„Mister President! Der Mann. Das ist doch...“

 
[1]„Wann ech gelift“ ist Luxemburgisch für „Bitte“. Grammatikalisch sehr verwandt mit dem französischen „S’il vous plaît“ – aber das sagt man einem echten Luxemburger besser nicht.
[2] „Oh Mamm!“ rutscht Luxies heraus, wenn sie so richtig von etwas überrascht werden. Neu entdeckte Milliardenlöcher in EU-Haushalten sind allerdings schon lange kein Anlass mehr dazu.
[3] Neues Viertel von Luxemburg-Stadt mit vielen EU-Institutionen und Niederlassungen weltweit agierender Unternehmen. Trotz der internationalen Bevölkerung hat sich die Luxemburger Präposition durchgesetzt: es heißt nicht „in Kirchberg“, sondern „auf“.

Hughes Schlueter

„Hermett Dyne-Swans!“

„Äh, w... Jetzt? Hier?“

Kuntze war freudig überrascht, dass seine Luxemburger Kollegin, die energisch auf ihn zuschritt, endlich mal aus sich herausging. Er sah sich um, ob auf dem Messestand nicht irgendwo ein dunkles Eckchen war.

Danièle stutzte, blieb vor ihm stehen und überlegte. Oje, der brauchte dringend mal jemanden für was ganz anderes.

Sie wiederholte den Namen und sprach dieses Mal deutlicher. Kuntze begriff, wurde rot und spann den Gedanken trotzdem weiter, während er fragte:

„Wer ist das?“

„Ein verkappter Tänzer. Und ein schlechter dazu! Der unseren Armand erstach. Schlich sich unter die Maoris. Die mit dem Tanz. Der Große mit dem Federkopfschmuck, der auch der Manager der Truppe ist, hat mir die Aufstellung der Beteiligten gegeben. Neun Tänzer mit ihm. Zehn auf dem Clip, den der Hessische Rundfunk gedreht hat. Neun hat der Häuptling identifiziert. Einen nicht. Den mit der verrutschen Perücke. Den, der zustach. Clip an Europol gemailt. Biometrie. Datenbank. Und Bingo! Ein staatenloser Auftragskiller namens Hermett Dyne-Swans. Wirklich irrer Typ, heißt es.“

Wieder ging ein Zucken durch Kuntze. Es war einfach zu süß, wie die Luxemburgerin das aussprach.

„Fahndung?“

„Schon veranlasst.“

„Perfekt. Pause? Kaffee?“

Vielleicht ließ sich doch noch etwas machen.

„...die Besucher stehen unter Schock. Blut überall. Ich sehe in angstverzerrte Gesichter. Wird die Messe nach diesem Horror weitergehen? Kann sie das überhaupt? Ist unser Nachbarland ein Hort der Irren? Wie werden unsere deutschen Freunde in diesen Minuten mit diesem schweren Schlag fertig? Kann die Polizei die Massen beruhigen? Der Panik Herr werden? Sind wir hier überhaupt noch sicher? In Frankfurt am Main? Wen holt sich der Buchmessen-Killer als nächstes? Bleiben Sie dran! Wir berichten. Ich bin Sandra Boehles.“

Die Chefredakteurin nickte der Kamera zu. Tom schaltete sie aus. Die Zuschauer verteilten sich und gingen eher ruhig ihres Messewegs. Niemand befürchtete, ein Buch in den Rücken zu bekommen oder von einem Kindle erschlagen zu werden.

Sandra wischte sich die Stirn ab. Auf ihrem Handrücken krümelte die Schminke. Im Jackett vibrierte es. SMS.

„Armand definitiv tot. Schon auf Messe. Nun amtlich. Sorry. Wirklich! Jang.“

Jang war Armands Anwalt und der Einzige, der von Sandras Daueraffäre mit Vandenberg wusste. Gut. Auch ok. Spontane Tränen unterdrücken. Schade um den Geliebten, zurück zum Mann. Einstweilen halt. Vom lauten zum stillen Egomanen. Vom Politiker wieder zum Philosophen. Wo bist du, wenn du da bist? Armand hatte wenigstens Muskeln. War es gut für ihn, dass er so schnell gestorben war? Wahrscheinlich. Für seinen Geschmack aber sicherlich nicht heroisch genug. Später weiterdenken. Ein Job wollte gemacht werden und leider war hier eine Gelegenheit. Sandra schnippte mit den Fingern, Tom hob die Kamera.

„Hier ist wieder Sandra Boehles. Jetzt mit einer traurigen Nachricht für alle Luxemburger. Und die ganze Welt:

Captain Randolph Murphy verlor seine letzte Schlacht. Armand Vandenbergs Todeskampf dauerte Stunden, aber noch im Hubschrauber sagte er: Mein Herz schlägt links der Mosel...

Die kräftige Hand mit dem haarigen Rücken tippte auf das iPad. Der stämmige Mittvierziger mit Glatze und schwarzem Vollbart im senfgelben Seidenanzug hatte genug von dieser „Victoria“ in schwarzer Unterwäsche und halterlosen Strümpfe auf dem Display, Geschäfte mussten gesichert werden. Aleksandr Yonnawitsch war nicht Russlands größter Energieunternehmer, weil er privaten Impulsen zu oft nachgab. Eine Mail klingelte in seinem Account und informierte ihn im vereinbarten Code über den erfolgreichen Transfer von Anteilen von EnergiePrompt an eine Holding in Zug. Na, also.

Und jetzt kam auf der Messe ein spannender Vortrag über Games. Er warf das Gerät seinem Cousin und Sicherheitsmann zu. Der fing es lässig auf.

„Keine Lust mehr, Sascha?“

„Njet, Grischa. Wir laden nachher analoge Schlampen ein. Ist mehr Freude.“

Der senfgelbe Sascha und der graue Grischa klopften ihre Knöchel aneinander und gingen in den Saal Entente der Halle 4C, in der Paul Chen erzählte, wie er mit seinen Angry Birds seine Marke und sein Konto ausbaute.

„Das ist er doch, oder?“

„Wer?“

„H e r m e t t  D y n e - S w a – h a n s.“

Kuntze hatte das sofort erkannt, als ihm Danièle das Bild unter die Nase hielt; er wollte nur hören, wie sie es mit ihrem Luxemburger Akzent sang. Und sie tat ihm den Gefallen.

Auf dem gedruckten Foto sah man einen Mann, der noch Spuren der Theaterschminke trug, mit verzerrtem Gesicht hinter dem Steuer eines Autos. Aus der Innentasche eines hastig übergeworfenen Sakkos sah man die Haare einer Perücke heraushängen.

„Geschwindigkeits- und Rotlichtkontrolle in eurer Hanauer Landstraße, wo immer das sein mag“, Danièle zog die Mundwinkel nach unten.

„Da erwischt’s jeden“, meine Kuntze lakonisch.

„Dich auch schon?“

Man hatte sich ein wenig angefreundet.

„Hm. Kann sein. Ich erinnere mich da nicht so genau.“

„Verstehe. Jedenfalls können auch Schminke und Perücke die Biometrie nicht überlisten.“

„Nein...“

„Datenabgleich über euer BKA mit Druck und Freibrief von Juncker. Deine Kollegen sind wirklich auf Zack, muss ich sagen. Deine KOLLEGEN...“

„Naja...“, Kuntze dachte nach - sein Satz ICH leite hier die Ermittlungen ging ihm durch den Kopf. „Und wo ist er jetzt?“

„Hatte einen Mietwagen mit GPS-Tracking, schön blöd, oder? Deine Kollegen haben soeben bei Offenbach zugegriffen.“

„Aha, und woher wussten die das? Wer hat das koordiniert?“

„Jedenfalls nicht dein Swans!“

Danièle drehte sich um und jeder, der sie gerade von vorne sah, fragte sich, warum sie so breit grinste.

Minuten darauf führten sechs Polizisten einen völlig apathischen Hermett Dyne-Swans in das Forum auf der Agora, in dem Kuntze mit einem schnell vorbeigehenden Anflug von Dienstbeflissenheit eine Aktionszentrale eingerichtet hatte. Gegen die Vorschriften, die eine Verbringung in Polizeigewahrsam vorsahen. Aber Kuntze wollte für sich und Danièle mediale Präsenz bei der Verhaftung.

Der Mann war klein, verschwitzt und staatenlos, wie die Überprüfungen bestätigten. Er hatte gefälschte Pässe und Führerscheine aus Island, Argentinien und China auf seinen Namen ausgestellt dabei.

„Die Gastländer der letzten Buchmessen“, stellte Danièle fest, die vor dem festgehaltenen Dyne-Swans stand, der auf seinem Stuhl zusammengesunken war und niemanden ansah.

„Wollte ich grad sagen“, nickte Kuntze. „Vielleicht ein Fan? Oder selbst Schriftsteller?“

„Brauchen Sie einen Übersetzer, Herr Hauptkommissar?“, fragte einer der Polizisten und hielt sein Funkgerät bereit.

„Nicht nötig“, antwortete Kuntze wichtig, „was sprechen die in Island, Argentinien und China? Doch auch Englisch!“. Er wandte sich an Dyne-Swans: „Do you read me, man?“

Kuntze fand den aus Filmen abgelauschten Funkerspruch sehr professionell und schielte auf Danièle, ob sie diese Ansicht wohl teilen möge.

„Er ist doch... staa-haatenlos! Bleib bei Englisch. Können wir ihn gleich hier vernehmen?“, fragte sie.

„Deswegen hab ich das alles aufbauen lassen“, antwortete Kuntze mit großer Geste und klappte einen Laptop auf, auf dem der Film des hr mit der Maori-Show und dem Mord lief. Kurz bevor Dyne-Swans, der klar erkennbar war, Vandenberg das Messer in den Bauch rammte, hielt Kuntze den Clip an. Ein mittelgroßes Publikum hatte sich um den improvisierten Verhörraum versammelt, und auch RTL-Tom mit seinem Team hatte Wind bekommen und brachte seine Kamera in Stellung. Draußen von der Agora sah man Sandra Boehles schnell und hochhackig, aber nicht sehr elegant heranklackern. Dyne-Swans saß noch immer zusammengesunken auf seinem Stuhl und glotze stur auf den Boden. Sogar sein Lidschlag setzte aus.

„Moment! Was ist denn das?“ Kuntze tippte auf den Monitor, der den Film zeigte. „Warum hat das noch keiner gesehen??“

Alle sahen hin. Tom versuchte eine Großaufnahme des eingefrorenen Bildes zu machen: Armand Vandenberg stand in der Pose des Häuptlings neben demselben und lachte breit. Dyne-Swans setzte mit seinem vorgestreckten Messer zum Stoß an – und hatte unter der verrutschten Perücke einen Knopf in seinem linken Ohr!

Stimmen riefen durcheinander:

„Der kriegt Instruktionen.“

„Dyne-Swans ist fremdgesteuert!“

„Wie bitte?“

„Der hatte keinen eigenen Willen!“

„Aber WER hat ihn programmiert?“

„Wer ist der richtige Mörder?“

„Hier ist Sandra Boehles. Live vom Buchmessen-Massaker mit Informationen vom Täter HINTER dem Täter. Bleiben Sie dran!“

In diesem Moment erklang der Gong, der die Verkaufscharts für den gesamten Tag ankündigte. Auf den riesigen Bildschirmwänden in der Halle war ein Foto Armands mit einem schwarzen Rahmen zu sehen. Die Sprecherin jubelte:

„Die alte Nummer Eins ist auch die neue! Armand Vandenberg geht mit seiner Autobiografie True Tales durch die Decke in den Himmel!“ – sie besann sich und wurde etwas ruhiger – „Emm. trauriger Anlass – aber sensationelle Verkäufe! Er lässt alles hinter sich, vor allem die weit abgeschlagene, ehemalige Nummer Zwei, äh, Moment... Florian Bertholt Schnitzler, mit seinem Sachbuch Wo bist du, wenn du da bist? Von Zwei zurück ins Nichts. Übrigens der Absteiger des Tages!“

Die Nachricht vom gewaltsamen Tod Vandenbergs hatten die Verkaufszahlen von True Tales nach oben schießen lassen. Vor allem Frauen, Fitnessjunkies und Verschwörungstheoretiker wollten es lesen. Sofort.

Sekunden nach dem Einspieler von Vandenbergs Bild schaltete die Regie schonungslos auf den Verlierer. Emotionen wollten eingefangen sein und schrien nach dem Schirm. Dort erschien überlebensgroß ein Livebild von Schnitzler, dem es nicht gelang, seine Enttäuschung zu verbergen. Mit einem affigen Kopfschnicken warf er seine schulterlange Mähne nach hinten und sah aus den Augenwinkeln in die Kamera. Er trug einen schwarzen Ohrring, der auch in das Ohr selbst gesteckt war.

„Welche Gesichtscreme nimmt der verdammte Kerl nur?“, wollte Kuntze laut wissen, „und dieser alberne Schmuck...“

Auch Dyne-Swans sah Schnitzlers Gesicht auf dem Riesenbildschirm. Und plötzlich kam Leben in ihn. Er riss die Augen auf und stierte auf den Schriftsteller. Sein Mund öffnete sich. Er beugte sich auf dem Stuhl nach vorne.

Die Kamera hielt weiter auf Schnitzler. Der war kurz davor, loszuheulen: „Absteiger des Tages!“ Dann blinkte noch ein roter Pfeil, der auf ihn zeigte. Sollte alles umsonst gewesen sein? Was für eine Schmach! Erst vögelte der klebrige Kraftprotz seine Frau und dann wollten die Menschen ihn auch noch lieber lesen. Scheiß-Welt! Wer konnte das alles ertragen?

„Waaaaaahhhhh!“ Schnitzler sah nach oben und brüllte sich die Seele aus dem Leib, „er hat mir meine Frau und meine Leser genommen!“

Dyne-Swans bekam einen irren Blick und holte tief Luft. Er musste das Zeichen seines Meisters wiederholen.

„Waaaaaahhhhh!“ stimmte er in den Schrei mit ein.

Danièle und Kuntze sahen sich an und verstanden augenblicklich. Hier war die Verbindung: Schnitzler hatte den staatenlosen Auftragskiller manipuliert. Programmiert. Psychologe! Kuntze kombinierte jetzt die In-Ear Funkgeräte, die Schnitzler und Dyne-Swans trugen. Danièle als Luxemburgerin kannte natürlich das Paar Schnitzler-Boehles. Motiv: Vandenberg für immer aus der Bestsellerliste verdrängen und mit einem irren Wirrkopf den Geliebten der eigenen Frau ausschalten.

Aber die hatte auch verstanden. In ihrem eigenen Gefühlsgewitter war der Reporterjob der beste Blitzableiter.

„Hier ist Sandra Boehles!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Die Welt will wissen: Warum musste Armand Vandenberg sterben? Steht es in seinem Buch? Sah er etwa seinen Tod voraus? Was ist so brisant, dass...“, ihre Stimme ging im Aufruhr unter.

„Wo ist er, wenn er nicht da ist?“, wollte Kuntze von einem Hallenverantwortlichen wissen und zeigte auf die Bildschirmwand zu Schnitzler.

„Medienzentrum!“

Die Polizisten schwärmten aus. Dyne-Swans wollte den Moment nutzen, um in der Menge unterzutauchen. Aber Danièle stellte ihm ein Bein. Er klatschte der Länge nach auf den Hallenboden und schlug sich sein Kinn auf. Bewusstlos blieb er liegen.

„Dyne-Swans kommt wohl nicht mehr so schnell hoch“, meinte Danièle mit einem süffisanten Blick auf Kuntze. Der lächelte.

„Abwarten. Lass Dich einfach überraschen. Sieger-Kaffee?“

„Oui.“

 Auf den Riesenbildschirmen in der Halle sah Florian Bertholt Schnitzler nach rechts und links in die Gesichter zweier uniformierter Polizeibeamter.

 

(Adagio grave):
Selbst in den Köpfen der Vertrautesten kann man mitunter die Hölle entdecken. Wir wurden gerade Zeuge einer menschlichen Tragödie. In Frankfurt. Auf der Buchmesse 2012. Mein Name ist Sandra Boehles. Und ich bin wieder Single.“

 

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